Soziale Differenzierung des Verhaltens: Unterschied zwischen den Versionen

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Auf dieser Seite werden daher gängige Typologien vorgestellt, die innerhalb der Verkehrs- und Mobilitätsforschung benutzt werden, um ein unterschiedliches Mobilitätsverhalten zu beschreiben und zu erklären. Diese Typologien bilden wegen ihrer „Gemeinsamkeiten innerhalb der gesellschaftlichen Vielfalt“ auch die Grundlagen dafür, [[Zielgruppen]] für differenzierte Informationskampagnen, Beteiligungsformate, Anreizsysteme etc. zu definieren und ggf. das Verhalten von bestimmten sozialen Gruppen zu beeinflussen (beispielsweise, um die Verkehrs- und Mobilitätswende einleiten und unterstützen zu können).
 
Auf dieser Seite werden daher gängige Typologien vorgestellt, die innerhalb der Verkehrs- und Mobilitätsforschung benutzt werden, um ein unterschiedliches Mobilitätsverhalten zu beschreiben und zu erklären. Diese Typologien bilden wegen ihrer „Gemeinsamkeiten innerhalb der gesellschaftlichen Vielfalt“ auch die Grundlagen dafür, [[Zielgruppen]] für differenzierte Informationskampagnen, Beteiligungsformate, Anreizsysteme etc. zu definieren und ggf. das Verhalten von bestimmten sozialen Gruppen zu beeinflussen (beispielsweise, um die Verkehrs- und Mobilitätswende einleiten und unterstützen zu können).
  
Die Unterscheidung in unterschiedliche Zielgruppen in der Verkehrs- und Mobilitätsforschung wird unter der Annahme getroffen, dass die definierten Gruppen intern eine gewisse Homogenität ihres Mobilitätsverhaltens zeigen, das sich wiederum von derjenigen der anderen Gruppen deutlich unterscheidet. Die Kriterien, nach denen Gruppierungen vorgenommen werden, hat sich innerhalb der Wissenschaft im Laufe der letzte 50 Jahre verändert – von den soziodemografischen und sozioökonomischen Strukturmerkmalen, die auch in der amtlichen Statistik erfasst werden, hin zu verhaltenshomogenen Gruppen und zu soziokulturellen Gruppen (ähnlicher Mobilitätsstil, gleiches soziales Milieu).
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==Soziodemographische Gruppen==
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Man geht in der Forschung davon aus, dass soziodemografische Gruppen gewisse Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer sozialen Lage und den damit verbundenen Möglichkeiten und Einschränkungen und daher sich ähnliche Einstellungen und Verhaltensweisen haben. Die Forschung orientiert sich dabei stark an den Merkmalen und Klassifizierungen aus der amtlichen Statistik, die für bestimmte administrativ definierte Flächen (vom Nationalstaat bis zum Zählsprengel) Informationen über die dortige Wohnbevölkerung liefert.
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Unter soziodemografischen Gruppen werden
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*Altersgruppen (entweder als „Jugendliche“ oder „ältere Menschen“ benannt oder nach Altersgruppen, meist in 18 Jahres-Abständen).
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*Geschlechtsgruppen (ursprünglich als Frauen-Männer dichotomisiert), aktuell meist als „Gender“ thematisiert (zur Differenzierung s.u.)
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*Haushaltsformen (differenziert nach Zahl der Personen, Zahl der erwachsenen Personen, Zahl der Kinder (differenziert nach Alter).
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*Nationalität, wobei die Unterscheidung zwischen „eigener“ und „fremder“ Nationalität aus unterschiedlichen Gründen relevant ist; seit ca. 15 Jahren wurde die Kategorie „Migrationshintergrund“ hinzugefügt (zur Begründung s.u.)
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===Alter===
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Wie eine Reihe empirischer Untersuchungen gezeigt hat, bilden Altersgruppen allenfalls Dummies für dahinterliegende Annahmen: Gesundheitlicher Zustand, Bedeutung für Erwerbssektor und das Rentensystem, sozialpolitische Überlegungen (beispielsweise für Jahrestickets im ÖPV. Doch sind in den jeweiligen Altersgruppen der Gesundheitszustand der Personen sehr unterschiedlich und die Erwerbsbeteiligung zunehmend uneinheitlich – dennoch werden beispielsweise Menschen, die älter als 60 Jahre sind, gleich behandelt.
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Für die Frage, wie eigenständig Menschen im höheren Alter noch mobil sein können, wird in der Regel nicht der reale Gesundheitszustand erhoben, sondern ersatzweise wird die Gruppe der über 60-/65-Jährigen in Teilgruppen unterteilt: „junge Alte“/dritte Lebensphase (60/65-75 Jahre) und Betagte/Hochbetagte/oldest old (>75 Jahre) als vierte Lebensphase. Dieser variiert innerhalb der Altersgruppen jedoch aufgrund insbesondere gesundheitlicher, aber auch mentaler Faktoren sehr stark.
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Die Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe ist also allenfalls ein grober Dummy für Strukturmerkmale und zudem kaum eine einheitliche Einstellungs- oder Handlungskategorie. Eine Möglichkeit besteht darin, innerhalb der Altersgruppen nach Milieu- oder Lebensstil-Kategorien oder nach der sozialen Lage (als Kombination aus sozialem Status und Familien-Typ) (s.u.) zu unterscheiden.
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*'''MiD Ergebnisbericht'''
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:Der Mobilität in Deutschland [http://www.mobilitaet-in-deutschland.de/pdf/MiD2017_Ergebnisbericht.pdf Ergebnisbericht] gibt Aufschluss über den Einfluss von Alter und anderen sozioökonomischen Faktoren auf das Mobilitätsverhalten.
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*'''Mobilitätsbezogene Einstellungen beim Übergang vom Kindes- ins Jugendlichenalter'''
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:Bastian (2010)<ref>Bastian, Thomas (2010): Mobilitätsbezogene Einstellungen beim Übergang vom Kindes- ins Jugendlichenalter. Querschnittliche Altersvergleiche bei 14- bis 16-Jährigen. Wiesbaden: Springer VS.</ref> hat sich mit der Konstituierung von mobilitätsbezogenen Einstellungen und Werthaltungen in der Frühadoleszenz (14 bis 16 Jahre) befasst.
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*'''Einfluss des elterlichen Mobilitätsverhaltens'''
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:Dass vor allem Kinder und Jugendliche auf das Mobilitätsverhalten ihrer Eltern reagieren und häufig dazu neigen, dieses zu übernehmen, ist durch unterschiedliche Studien (z.B. Baslington 2008<ref>Baslington, Hazel (2008): Travel Socialization: A Social Theory of Travel Mode Behavior. In: International Journal of Sustainable Transportation 2 (2): 91-141.</ref>, Flade & Limbourg o.J.<ref>Flade, Antje & Limbourg, Maria (o.J.): Das Hineinwachsen in die motorisierte Gesellschaft Eine vergleichende Untersuchung von sechs deutschen Städten. https://www.uni-due.de/~qpd402/alt/texte.ml/FladeLimb.html.</ref>., Haustein et al. 2008<ref>Haustein, Sonja; Klöckner, Christian A. & Blöbaum, Anke (2008): Car use of young adults: The role of travel socialization. In: Transportation Research Part F – Traffic Psychology and Behaviour 12 (2):168-178.</ref>) belegt.
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===Geschlecht / Gender===
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Innerhalb jeder Gesellschaft bestehen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Hierbei ist aber zu unterscheiden zwischen den biologischen Eigenschaften (im engl. „sex“, lange als Dichotomie zwischen Frau und Mann angesehen, mittlerweile auch schrittweise als des „weder-noch“ resp. des „sowohl-als-auch“ der [https://de.wikipedia.org/wiki/Intersexualit%C3%A4t Intersexualität] rechtlich akzeptiert) und dem Umgang innerhalb der Gesellschaften mit den biologischen Unterschieden (engl. „gender“).
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Der gesellschaftliche Umgang
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*durch die Erwartungen an gesellschaftliche Rollen (Verteilung der Erwerbs- und Reproduktionsarbeit),
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*mit dem Verteilen von Privilegien (Zugänge zu Institutionen wie Schulen und Vereinen, Teilhabe an politischen Wahlen, etc.),
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*mit gesellschaftlichen Aufstiegschancen (Übergang vom Bildungssystem ins Erwerbssystem, berufliche Aufstiegsmöglichkeiten, etc.) sowie
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*den Erwartungen an Verhaltensweisen
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bestimmt in starkem Maße die sozialen Ungleichheiten und gesellschaftlichen Benachteiligungsmuster durch die Kategorie „Geschlecht“.
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Im gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs werden beide Aspekte häufig vermischt: Es wird von „gender“ gesprochen, als Grundlage dienen jedoch biologisch definierte Menschen. In der amtlichen Statistik wird die Wohnbevölkerung ausschließlich nach biologischen Merkmalen definiert oder in Fragen der Gleichberechtigung wird eine „Frauenquote“ eingefordert, aber als „Genderfrage“ thematisiert.
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In der Verkehrsforschung wird grundsätzlich mit Kategorien „Frau“ und „Mann“ gearbeitet und dabei festgestellt, dass die Mobilitätsmuster und Wege(ketten) von Männer und Frauen unterscheiden: Männer haben im Alltag eher weniger, aber längere Wege und sind häufiger mit dem eigenen Pkw unterwegs als Frauen, die mehr Wege aufweisen, die kürzer sind und (zwangsweise?) eher intermodal bewältigt werden – das läuft dann aber fälschlicherweise unter „Genderforschung“. Darüber hinaus bleibt bei solchen Ergebnissen meist unerwähnt, dass die Heterogenität des Verkehrsverhaltens für Frauen deutlich höher liegt als bei Männern, da deren Rollenspektrum deutlich größer ist (von der kinderlosen voll Erwerbstätigen, über die halbtags arbeitende Alleinerziehende bis zur Mutter mit drei Kindern).
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Die Ursachen für die Unterschiede zwischen Männer und Frauen liegen also in Gender-Aspekten, nämlich den unterschiedlichen Rollenerwartungen an private, berufliche oder gesellschaftliche Verpflichtungen Es werden aber meist nur die Auswirkungen (Mobilitätsmuster) beschrieben, die Gründe (d.h. die Gender-Aspekte) werden in der Regel nicht analysiert, weil beispielsweise nur die Außer-Haus-Aktivitäten für die Verkehrsforschung relevant sind) (Knoll & Szalai 2009<ref>Knoll, Bente & Szalai, Elke (2009): Gender Gap im Verkehrs- und Mobilitätsbereich – Hintergrundbericht. Studie im Auftrag des VCÖ. Wien. https://www.mobilservice.ch/admin/data/files/news_section_file/file/2232/vcoe-studie-gender-gap-hintergrundbericht.pdf?lm=1418801165.</ref>).
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Es ist also das Ausmaß der privaten, beruflichen oder gesellschaftlichen Verpflichtungen in der Organisation des Alltages und der darin eingebetteten unterschiedlichen Rollenzuschreibungen für innerhäusliche und außerhäusliche Aktivitäten, die eher privat geregelt werden und in der Regel nicht Gegenstand der Mobilitätsforschung sind. Daher ist innerhalb der Verkehrsforschung eine wirkliche Genderforschung eher die Ausnahme (Konrad 2016<ref>Konrad, Kathrin (2016): Mobiler Alltag im Wandel des Geschlechterverhältnisses. Studien zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11282-0_4.</ref>).  
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==Soziodemographische Gruppen==
 
Die „klassische“ Form ist die Unterteilung nach soziodemografischen Kategorien: Alter, Geschlecht, Haushaltstyp, später auch Nationalität und Migrationshintergrund. Diese Kategorien lassen sich aus der amtlichen Statistik ableiten; diese gibt zudem meist die Klassierung vor (z.B. Altersklassen). Dem Grund dafür, diese Kategorien im Rahmen der amtlichen Erhebungen zu Statistiken zusammenzuführen, liegt die Annahme zugrunde, dass die jeweiligen Klassen relevante Gemeinsamkeiten aufweisen: Gemeinsame Verhaltensweisen und Einstellungen zu diesem Verhalten. Mit der Ausdifferenzierung der Lebenslagen und Lebensstilen moderner Gesellschaften sind diese Gruppen zunehmend inhomogen und eignen sich immer weniger, um ein Mobilitätsverhalten zu beschreiben, zu erklären resp. um sie in Modellierungen zu verwenden.
 
  
===Altersklassen===
 
Alter ist eine „trickreiche“ Kategorie, weil sie die einzige ist, die sich permanent verändert. Jeder Mensch „rutscht“ irgendwann über eine statistisch vorgegebene Schwelle (40 Jahre) in eine neue Kategorie (> 40 bis 50 Jahre), ohne dass sich das Verhalten von einem auf den anderen Tag verändert. Zudem überlagert sich die Alterskategorie mit dem Kohortenbegriff, der „Generationen“ bestimmt. Damit sind zusammengefasste Geburtsjahrgänge gemeint, die sehr starken gemeinsamen Sozialisationserfahrungen zugeschrieben werden: Die Nachkriegs-Generation, die 68er, die X-, Y-, Z-Generation u.s.w. So hat es sich beispielsweise herausgestellt, dass ein Fehlen eines Pkw-Führerscheins bei Frauen kein Alters-, sondern ein Kohorteneffekt ist.
 
  
 
==== PhantasiJA ====
 
==== PhantasiJA ====

Version vom 3. Dezember 2021, 17:53 Uhr

Menschen unterscheiden sich häufig in ihrem Verhalten, auch wenn sie in ähnlichen sozialen und sozialräumlichen Kontexten agieren (s. Behaviorismus). Wie groß das Spektrum des Verhaltes sein kann, hängt von den „Spielräumen“ ab, die als finanzielle oder zeitliche Ressource angesehen werden können oder als normative Hinweise wie „Hausordnungen“, Gesetze und Verordnungen. In modernen und wohlhabenden Gesellschaften geht man davon aus, dass die „Spielräume“ größer sind und Interessen und Zielsetzungen sich im Rahmen des Wertewandels ausdifferenzieren (Wertevielfalt). Ein Grund hierfür besteht darin, dass traditionelle Institutionen, die Werte vorgeben (Religion, Gewerkschaften, politische Parteien, traditionelle Medien) an Bedeutung verlieren. An die Stelle traditioneller Milieus mit entsprechenden Werten (vor allem unter den älteren Menschen) treten zunehmend Faktoren wie Individualität, Flexibilität und neue soziale Schließungen entlang von zusammengebastelten Werte-Konglomeraten, die insbesondere über die „neuen“ sozialen Medien gestärkt werden (Echokammern). Diese, eher von den jungen Erwachsenen getragenen Werte bestimmen zunehmend die Erwerbsarbeit, aber auch die privaten Beziehungen.

Aber selbst bei engen und verpflichtenden Rahmenbedingungen kommen abweichende Verhaltensweisen vor: Überschreitung der Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen; falsches Tragen des Mund-Nasen-Schutzes in öffentlichen Verkehrsmitteln, etc. In der Verkehrsforschung geht man häufig von „Durchschnitts-BürgerInnen“ (= alle Menschen handeln immer in gleicher, durchschnittlicher Weise) oder von „immer rational handelnden Menschen“ aus (immer schnell und preisgünstig von A nach B) (z.B. in Modellierungen), dann ist es wahrscheinlich, dass es einige Menschen gibt, die sich nicht wie erwartet verhalten, was dann als Rebound-Effekt eingeordnet wird. Je enger der gesteckte Rahmen ist, umso eher verhalten sich alle Menschen gleich, denn die meisten halten sich an die Richtgeschwindigkeit auf der Autobahn. Sind jedoch die „Spielräume“ größer – beispielsweise bei der Verkehrsmittelwahl in Großstädten –, dann hängt das Mobilitätsverhalten sehr stark von Persönlichkeitsmerkmalen ab.

Auf dieser Seite werden daher gängige Typologien vorgestellt, die innerhalb der Verkehrs- und Mobilitätsforschung benutzt werden, um ein unterschiedliches Mobilitätsverhalten zu beschreiben und zu erklären. Diese Typologien bilden wegen ihrer „Gemeinsamkeiten innerhalb der gesellschaftlichen Vielfalt“ auch die Grundlagen dafür, Zielgruppen für differenzierte Informationskampagnen, Beteiligungsformate, Anreizsysteme etc. zu definieren und ggf. das Verhalten von bestimmten sozialen Gruppen zu beeinflussen (beispielsweise, um die Verkehrs- und Mobilitätswende einleiten und unterstützen zu können).

Soziodemographische Gruppen

Man geht in der Forschung davon aus, dass soziodemografische Gruppen gewisse Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer sozialen Lage und den damit verbundenen Möglichkeiten und Einschränkungen und daher sich ähnliche Einstellungen und Verhaltensweisen haben. Die Forschung orientiert sich dabei stark an den Merkmalen und Klassifizierungen aus der amtlichen Statistik, die für bestimmte administrativ definierte Flächen (vom Nationalstaat bis zum Zählsprengel) Informationen über die dortige Wohnbevölkerung liefert.

Unter soziodemografischen Gruppen werden

  • Altersgruppen (entweder als „Jugendliche“ oder „ältere Menschen“ benannt oder nach Altersgruppen, meist in 18 Jahres-Abständen).
  • Geschlechtsgruppen (ursprünglich als Frauen-Männer dichotomisiert), aktuell meist als „Gender“ thematisiert (zur Differenzierung s.u.)
  • Haushaltsformen (differenziert nach Zahl der Personen, Zahl der erwachsenen Personen, Zahl der Kinder (differenziert nach Alter).
  • Nationalität, wobei die Unterscheidung zwischen „eigener“ und „fremder“ Nationalität aus unterschiedlichen Gründen relevant ist; seit ca. 15 Jahren wurde die Kategorie „Migrationshintergrund“ hinzugefügt (zur Begründung s.u.)

Alter

Wie eine Reihe empirischer Untersuchungen gezeigt hat, bilden Altersgruppen allenfalls Dummies für dahinterliegende Annahmen: Gesundheitlicher Zustand, Bedeutung für Erwerbssektor und das Rentensystem, sozialpolitische Überlegungen (beispielsweise für Jahrestickets im ÖPV. Doch sind in den jeweiligen Altersgruppen der Gesundheitszustand der Personen sehr unterschiedlich und die Erwerbsbeteiligung zunehmend uneinheitlich – dennoch werden beispielsweise Menschen, die älter als 60 Jahre sind, gleich behandelt.

Für die Frage, wie eigenständig Menschen im höheren Alter noch mobil sein können, wird in der Regel nicht der reale Gesundheitszustand erhoben, sondern ersatzweise wird die Gruppe der über 60-/65-Jährigen in Teilgruppen unterteilt: „junge Alte“/dritte Lebensphase (60/65-75 Jahre) und Betagte/Hochbetagte/oldest old (>75 Jahre) als vierte Lebensphase. Dieser variiert innerhalb der Altersgruppen jedoch aufgrund insbesondere gesundheitlicher, aber auch mentaler Faktoren sehr stark.

Die Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe ist also allenfalls ein grober Dummy für Strukturmerkmale und zudem kaum eine einheitliche Einstellungs- oder Handlungskategorie. Eine Möglichkeit besteht darin, innerhalb der Altersgruppen nach Milieu- oder Lebensstil-Kategorien oder nach der sozialen Lage (als Kombination aus sozialem Status und Familien-Typ) (s.u.) zu unterscheiden.

  • MiD Ergebnisbericht
Der Mobilität in Deutschland Ergebnisbericht gibt Aufschluss über den Einfluss von Alter und anderen sozioökonomischen Faktoren auf das Mobilitätsverhalten.
  • Mobilitätsbezogene Einstellungen beim Übergang vom Kindes- ins Jugendlichenalter
Bastian (2010)[1] hat sich mit der Konstituierung von mobilitätsbezogenen Einstellungen und Werthaltungen in der Frühadoleszenz (14 bis 16 Jahre) befasst.
  • Einfluss des elterlichen Mobilitätsverhaltens
Dass vor allem Kinder und Jugendliche auf das Mobilitätsverhalten ihrer Eltern reagieren und häufig dazu neigen, dieses zu übernehmen, ist durch unterschiedliche Studien (z.B. Baslington 2008[2], Flade & Limbourg o.J.[3]., Haustein et al. 2008[4]) belegt.

Geschlecht / Gender

Innerhalb jeder Gesellschaft bestehen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Hierbei ist aber zu unterscheiden zwischen den biologischen Eigenschaften (im engl. „sex“, lange als Dichotomie zwischen Frau und Mann angesehen, mittlerweile auch schrittweise als des „weder-noch“ resp. des „sowohl-als-auch“ der Intersexualität rechtlich akzeptiert) und dem Umgang innerhalb der Gesellschaften mit den biologischen Unterschieden (engl. „gender“).

Der gesellschaftliche Umgang

  • durch die Erwartungen an gesellschaftliche Rollen (Verteilung der Erwerbs- und Reproduktionsarbeit),
  • mit dem Verteilen von Privilegien (Zugänge zu Institutionen wie Schulen und Vereinen, Teilhabe an politischen Wahlen, etc.),
  • mit gesellschaftlichen Aufstiegschancen (Übergang vom Bildungssystem ins Erwerbssystem, berufliche Aufstiegsmöglichkeiten, etc.) sowie
  • den Erwartungen an Verhaltensweisen

bestimmt in starkem Maße die sozialen Ungleichheiten und gesellschaftlichen Benachteiligungsmuster durch die Kategorie „Geschlecht“.

Im gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs werden beide Aspekte häufig vermischt: Es wird von „gender“ gesprochen, als Grundlage dienen jedoch biologisch definierte Menschen. In der amtlichen Statistik wird die Wohnbevölkerung ausschließlich nach biologischen Merkmalen definiert oder in Fragen der Gleichberechtigung wird eine „Frauenquote“ eingefordert, aber als „Genderfrage“ thematisiert.

In der Verkehrsforschung wird grundsätzlich mit Kategorien „Frau“ und „Mann“ gearbeitet und dabei festgestellt, dass die Mobilitätsmuster und Wege(ketten) von Männer und Frauen unterscheiden: Männer haben im Alltag eher weniger, aber längere Wege und sind häufiger mit dem eigenen Pkw unterwegs als Frauen, die mehr Wege aufweisen, die kürzer sind und (zwangsweise?) eher intermodal bewältigt werden – das läuft dann aber fälschlicherweise unter „Genderforschung“. Darüber hinaus bleibt bei solchen Ergebnissen meist unerwähnt, dass die Heterogenität des Verkehrsverhaltens für Frauen deutlich höher liegt als bei Männern, da deren Rollenspektrum deutlich größer ist (von der kinderlosen voll Erwerbstätigen, über die halbtags arbeitende Alleinerziehende bis zur Mutter mit drei Kindern).

Die Ursachen für die Unterschiede zwischen Männer und Frauen liegen also in Gender-Aspekten, nämlich den unterschiedlichen Rollenerwartungen an private, berufliche oder gesellschaftliche Verpflichtungen Es werden aber meist nur die Auswirkungen (Mobilitätsmuster) beschrieben, die Gründe (d.h. die Gender-Aspekte) werden in der Regel nicht analysiert, weil beispielsweise nur die Außer-Haus-Aktivitäten für die Verkehrsforschung relevant sind) (Knoll & Szalai 2009[5]).

Es ist also das Ausmaß der privaten, beruflichen oder gesellschaftlichen Verpflichtungen in der Organisation des Alltages und der darin eingebetteten unterschiedlichen Rollenzuschreibungen für innerhäusliche und außerhäusliche Aktivitäten, die eher privat geregelt werden und in der Regel nicht Gegenstand der Mobilitätsforschung sind. Daher ist innerhalb der Verkehrsforschung eine wirkliche Genderforschung eher die Ausnahme (Konrad 2016[6]).



PhantasiJA

AKTIV MOBIL: Ich mach mir die Welt, wide wide wie sie mir gefällt.
Innerhalb des Projektes PhantasiJA erschaffen Jugendliche im Rahmen eines kreativen Arbeitsprozesses eine „PhanatsiJA-Stadt“, die auf die Nutzung aktiver Mobilitätsformen ausgerichtet ist und dabei auf die Bedürfnisse und Wünsche aller Altersgruppen abzielt. Es wird auf unkonventionelle Weise ein zukunftsorientiertes FTE-Konzept entwickelt, welches zur aktiven Personenmobilität beitragen wird.

Geschlecht

Die Statistik erfasst das biologische Geschlecht (meist noch in der traditionellen Dichotomie), nicht aber das soziale Geschlecht (‚gender‘), d.h. die Einstellungen, Rollenzuweisungen auf ganz unterschiedliche soziale Gruppen (auch Alter, Verwandtschafts-Relationen etc.), was letztlich das Mobilitätsverhalten beeinflusst – hier wird im Argumentieren leider viel vermischt. Mit einer Ausweitung der Rollen für Frauen, nicht zuletzt aufgrund verbesserter Bildung und höherer Erwerbsbeteiligung, hat sich gerade für Frauen das Mobilitätsverhalten deutlich ausdifferenziert (Hausfrauen, halbtags berufstätige alleinerziehende Mütter, berufstätige Alleinlebende). Aufgrund nach wie vor ungleicher Beteiligung von biologisch definierten Männern und Frauen an der bezahlten Erwerbsarbeit und der unbezahlten Reproduktionsarbeit ergeben sich strukturelle Benachteiligungen am Arbeitsmarkt und der Mobilität.

Haushaltstyp

Die Bedeutung dieser Kategorie ist für die Verkehrs- und Mobilitätsforschung (im Gegensatz zur Wohnbauforschung) unklar. Die Zahl der Personen hat beispielsweise eine andere Relevanz als die Verteilung der Alltags-Aufgaben, die ggf. Wege erzeugen – das wird aber über die gender-Analyse abgedeckt (s.o.).

Nationalität

Diese Kategorie ist für die Verkehrs- und Mobilitätsforschung völlig unklar und unterstellt eine Mischung aus einer ausländisch beeinflussten Sozialisation, aber unklaren Verhaltensaspekten. Was ist mit „Nationalität“ gemeint? Sprachschwierigkeiten – dann fällt es unter (-> Kognitive Barrieren / digital divide); weniger Einkommen (-> Sozioökonomische Disparitäten); traditionelle Rollenmuster (Lenker und Beifahrerin?) (-> gender-Ungleichheiten). Zudem ist die Gemeinsamkeit einer Staatszugehörigkeit nur in Extremfällen ein homogenisierendes Maß, weil unterschiedliche soziale Lagen damit verbunden sein können.

Migrationshintergrund

Diese Kategorie fasst alle Menschen zusammen, die selbst oder deren zumindest ein Elternteil außerhalb des Aufnahmelandes geboren wurde. Vor dem Hintergrund des Beschreibens ähnlicher Muster eine völlig unbrauchbare Kategorie, weil in ihr der Manager aus den USA, die Studentin aus den Niederlanden und ein Gelegenheitsarbeiter aus Afghanistan zusammengefasst werden.

Zusammenfassend

Die soziodemografischen Kategorien der amtlichen Statistik sind kaum bis gar nicht dafür geeignet, Klassen gemeinsamer Einstellungen und Verhaltensweisen der Mobilität angemessen differenziert zu beschreiben. Die darauf aufbauenden Entscheidungen der planenden Verwaltungen und der Wissenschaft sind „auf Sand gebaut“ – dennoch werden sie relativ kritiklos auch in der Forschung verwendet.

Sozioökonomische Gruppen

In einer über Märkte organisierten Gesellschaft spielt die Kaufkraft (für Fahrzeuge oder Wege) eine entscheidende Rolle. Das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen bestimmt im Wesentlichen die potenziellen Spielräume in den „Märkten“ und eben auch im Mobilitätsbereich. Die Kategorien Einkommen und Vermögen werden jedoch in der amtlichen Statistik nicht ausgewiesen, die jeweilige Erhebung ist tabuisiert und oftmals von „Peinlichkeiten“ gekennzeichnet, was zu höheren Verweigerungen der Angaben führt. Um diese Situation zu umgehen, wird oft der höchste Schulabschluss abgefragt, ein zunehmend schlechter Dummy in dem Maße, als der statistische Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Einkommen/Vermögen zunehmend schwächer wird.

Soziokulturelle Gruppen

In Kritik an der traditionellen Definition von Schichten, die sich an soziodemografischen und sozioökonomischen Kategorien orientiert, wurde die Aufmerksamkeit seit den 1970er Jahren auf die Bedeutung von soziokulturellen Kategorien für das Mobilitätsverhalten gerichtet. In diesem Zusammenhang ist von sozialen Milieus (Habitusformen) und Lebensstilen – hier: „Mobilitätsstilen“ die Rede. Mit dem sozialen Milieu werden solche Klassierungen bezeichnet, die auf gemeinsamen Wertvorstellungen aufbauen, während Mobilitätsstile ein ähnliches Mobilitätsverhalten zum Ausdruck bringen. Das bedeutet, dass beide Kategorien zwar in einem kausalen, aber nicht deterministischen Verhältnis stehen. Im Gegensatz zu den bisher genannten Kategorien sind soziales Milieu nicht eindimensional definiert und sie finden sich auch nicht in amtlichen Statistiken. Sie werden in der Regel mittels der Kombination unterschiedlicher multivariater Verfahren aus einer Fülle von Merkmalsausprägungen gebildet.

Potenzial für verschiedene Verkehrsmittelnutzung

Eine weitere Möglichkeit ist, Personen danach zusammenzufassen, welche Verkehrsmittel sie nutzen können. Dabei wurde ursprünglich lediglich das Eigentum erfasst (Anzahl an Pkw im Haushalt), heute wird auch erfasst, ob man beispielsweise auch auf einen Pkw im Freundes- und Bekanntenkreis verfügen kann. Zusätzlich wird der Besitz von Zeitkarten des öffentlichen Verkehrs erfasst.

Siehe auch: Identifizieren und beeinflussen der Zielgruppen

  1. Bastian, Thomas (2010): Mobilitätsbezogene Einstellungen beim Übergang vom Kindes- ins Jugendlichenalter. Querschnittliche Altersvergleiche bei 14- bis 16-Jährigen. Wiesbaden: Springer VS.
  2. Baslington, Hazel (2008): Travel Socialization: A Social Theory of Travel Mode Behavior. In: International Journal of Sustainable Transportation 2 (2): 91-141.
  3. Flade, Antje & Limbourg, Maria (o.J.): Das Hineinwachsen in die motorisierte Gesellschaft – Eine vergleichende Untersuchung von sechs deutschen Städten. https://www.uni-due.de/~qpd402/alt/texte.ml/FladeLimb.html.
  4. Haustein, Sonja; Klöckner, Christian A. & Blöbaum, Anke (2008): Car use of young adults: The role of travel socialization. In: Transportation Research Part F – Traffic Psychology and Behaviour 12 (2):168-178.
  5. Knoll, Bente & Szalai, Elke (2009): Gender Gap im Verkehrs- und Mobilitätsbereich – Hintergrundbericht. Studie im Auftrag des VCÖ. Wien. https://www.mobilservice.ch/admin/data/files/news_section_file/file/2232/vcoe-studie-gender-gap-hintergrundbericht.pdf?lm=1418801165.
  6. Konrad, Kathrin (2016): Mobiler Alltag im Wandel des Geschlechterverhältnisses. Studien zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11282-0_4.