Barrieren & Disparitäten

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Ungleichheiten werden solche Bedingungen genannt, die bestimmten sozialen Gruppen darin einschränken, sich angemessen gesellschaftlich beteiligen zu können. Das sind im Verkehrssektor vor allem physische Barrieren, aber auch zu geringe zeitliche Disparitäten und sozioökonomische Disparitäten. Hinzu kommen Einschränkungen, die stark personengebunden sind, weil diese Menschen bestimmte Informationen nicht aufnehmen können (kognitive Barrieren). Diese Ungleichheiten wurden bislang nur in der Verkehrsforschung aufgenommen, während andere Aspekte der Mobilität lang nicht berücksichtigt wurden. Darunter fallen neben der physischen Mobilität auch die Beweglichkeit von Informationen, Ideen, Narrationen etc., beispielsweise hinsichtlich des Zugangs zum Internet resp. die Benutzung von Apps (digital divide). Schließlich können auch emotionale Barrieren die Nutzung von Mobilitätsangeboten einschränken.

Physische Barrieren

Physische, also bauliche Barrieren sind Mauern, unüberwindbare Stufen, schmale Gehsteige oder starke Steigungen. Sie betreffen vor allem Personen mit Einschränkungen des Gehens, die Verkehrsmittel nicht oder nur eingeschränkt nutzen und/oder öffentliche Gebäude nicht betreten und den öffentlichen Raum nicht nutzen können. Um diesem Personenkreis ihre eigenständige Mobilität erleichtern zu können, haben die United Nations (UN) und in Folge die Europäische Union (EU) Rahmenverordnungen erlassen, um den mobilitätseingeschränkten Personen einen Zugang und damit eine verbesserte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Die nationale Umsetzung bezieht sich vor allem auf die Gestaltung der Fahrzeuge und bauliche Maßnahmen an Verkehrsanlagen sowie im Straßenraum und ist durch entsprechende Verordnungen geregelt.

Für Personen mit visuellen Einschränkungen, die entweder den Weg unzureichend wahrnehmen wurden taktile Leit-Systeme umgesetzt. Für Informationen wurde das sog. „Zwei-Sinne-System“ (Informationen sichtbar und hörbar) in Bahnstationen und Fahrzeugen des ÖPV eingeführt resp, spezielle Apps entwickelt.

In Österreich wurde zu diesem Thema die Studie b.unt barrierefrei unterwegs im Jahr 2007 im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie (bm:vit) zur Vorbereitung der Programmlinie ways2go veröffentlicht.

Aufbauend auf dem Projekt ÉGALITÉ wurde das Forschungsprojekt „ÉGALITÉplus – Ein gleichberechtigter Alltag im Verkehrsgeschehen – Quantifizierung von mobilitätsbeeinträchtigten Personengruppen“ in den Jahren 2008-2011 durchgeführt. Dort werden 16 Gruppen hinsichtlich ihrer strukturellen Benachteiligung bei der Teilnahme am Verkehr analysiert und wünschenswerte Schwellenwerte der Mindestversorgung definiert.

Sozioökonomische Disparitäten

Sozioökonomische Einschränkungen betreffen das verfügbare Haushaltseinkommen. Zu wenig Geld zu haben bedeutet, sich bestimmte Wege „nicht leisten“ zu können, die folglich unterbleiben. Je nach Art der Wege wirkt sie dieses jedoch unterschiedlich aus: Ist der Weg zur weiterführenden Schule, zu einem passenden Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu teuer, dann führt das in der Regel zu weiteren sozioökonomischen Einschränkungen. Können Kultur- und Freizeiteinrichtungen nicht aufgesucht werden oder Freunde „außerhalb der Reichweite“ leben, dann kann sich das in einer eingeschränkten Lebensqualität und Wohnzufriedenheit auswirken. Gerade in dünn besiedelten Gebieten ist die Versorgung mit dem ÖVP stark eingeschränkt. Da zudem die Ausstattung mit Angeboten des alltäglichen Bedarfs schlecht ist, sind die dort lebenden Menschen auf die Nutzung eines (eigenen) Pkw angewiesen, der die Leistbarkeit ärmerer Haushalte überfordert.

Das ist insofern politikrelevant, als eine angemessene kulturelle und soziale Teilhabe gesichert sein sollte. Dennoch gibt es in diesem Bereich keine ähnlich verbindlichen internationalen Vorgaben, die sich auf die allgemein verbindlichen Menschenrechte beziehen. Sozioökonomische Barrieren liegen in der Regel unterhalb des „gesellschaftlichen Radars“ ihrer Wahrnehmung. Es bleibt daher den lokalen/regionalen/nationalen Aushandlungsprozessen überlassen, wie Tarifstrukturen des Personenverkehrs für einkommensschwache Personen geregelt werden (Schüler- und Senioren-Karten, Zuschüsse, Null-Tarife, etc.).[1]

Der Verkehrsclub Österreich (VCÖ) hat bereits im Jahr 2009 eine Publikation zum Thema Soziale Aspekte von Mobilität veröffentlicht. Darin wird darauf eingegangen, wie sich das Mobilitätsverhalten von Menschen aufgrund ihres Einkommens unterscheidet. Auch die verkehrlichen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit werden dort beschrieben. Weiters wird dabei die Fragestellung erörtert, wie die Verkehrsplanung zur Integration von Menschen beitragen kann.

Zeitliche Disparitäten

Zeitliche Restriktionen entstehen für Personen, wenn berufliche und private Verpflichtungen einen sehr großen Zeitraum einnehmen. Insbesondere bei mehreren unterschiedlichen Verpflichtungen (Betreuung, Pflege, Hol- und Bringdienste, einkaufen) entsteht aufgrund der zu überwindenden Entfernungen ein hoher Verkehrsaufwand, der gerade bei intermodalen Wegeketten nicht nur einen hohen Koordinierungsaufwand bedeutet, sondern wegen der Umsteige- und Wartezeiten oft auch sehr zeitaufwändig ist. Die Verteilung von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Reproduktionsarbeit ist nach wie vor sehr ungleich zwischen Männern und Frauen verteilt. Dennoch muss hier zwischen der biologischen Zuordnung von Männern, Frauen und einem unbestimmten Geschlecht auf der einen Seite und gender als "soziales Geschlecht" unterschieden werden. Unter gender sind Zuschreibungen von Rollen an an Frauen und Männer gemeint, d.h. die ungleiche Verteilung von Aufgaben, welche häufig auch Wege notwendig machen, die oft zeitaufwändig sind und koordiniert werden müssen. Diese Ungleichheiten der ‚gender roles‘ werden von Politik und Planung (und bisweilen auch in der Verkehrsforschung) nicht berücksichtigt; stattdessen wird das biologische Geschlecht erhoben und analysiert. Zu den ungleich verteilten Rollen und den damit verbundenen zeitlichen Restriktionen kommen häufig ungleiche Lohnniveaus von Männern und Frauen hinzu (gender pay gap), der in Österreich EU-weit sehr hoch ist und der insbesondere für Alleinerziehende relevant ist.

Gender Gap im Verkehrs- und Mobilitätsbereich

Der VCÖ hat einen Hintergrundbericht zum Gender Gap im Verkehrs- und Mobilitätsbereich erstellt. Darin wird auf die ungleichen Mobilitätschancen von Frauen und Männern eingegangen und die geschlechterpolitischen Positionierungen im Verkehrs- und Mobilitätsbereich beschrieben.

Kognitive Barrieren / digital divide

Unter kognitiven Barrieren werden mentale Einschränkungen verstanden, die von den Sinnen her und/oder vom Verständnis her von Personen nicht bewältigt werden können. Das bezieht sich vor allem auf Informationen – daher werden alle Informationen im ÖPV als double sense wiedergegeben, das heißt alle Informationen sind zu lesen und zu hören.

Aktuelle Informationen zu Fahrplänen oder Verspätungen sowie vor allem über modernen Mobilitätsangeboten des Sharings und von verkehrsmodus-übergreifenden Angeboten zur Unterstützung der Intermodalität werden zunehmend nicht mehr über persönliche und telefonische Kontakte oder ausgedruckte Fahrpläne vermittelt, sondern über digitale Informationssysteme (z.B. ÖBB Scotty), die ein (mobiles) Endgerät, entsprechende Software-Pakete (Apps) und die Kenntnis ihrer Anwendung erfordern. Das bedeutet, dass der Zugang zur digitalen Welt für bestimmte Bevölkerungsgruppen versperrt bleibt. Durch die verstärkten Sicherheitsbestimmungen für Online-Kommunikation erhöhen sich diese Barrieren, da das Herunterladen von Apps umfangreicher und komplizierter wird.

Dass diese zusätzliche Barriere vor allem für ältere Menschen gilt, ist zwar empirisch richtig, jedoch nur eine sehr verallgemeinerte Aussage. Da der informationstechnische Wandel rascher erfolgt als die Fähigkeit zur Anpassung an den technologischen Wandel, ist zu befürchten, dass die Zahl der von modernen Mobilitätsangeboten ausgegrenzten Menschen eher ansteigen wird.

Wie in der Corona-Pandemie deutlich wurde, sind Schulen und öffentliche Einrichtungen digital schlecht ausgestattet (Breitband-Anschlüsse, Endgeräte, Schulungen und Personal); Schulen und Lehrbetriebe bilden daher zu wenig digitale Kompetenzen aus. Da zudem im Home-Schooling die sozialen Ungleichheiten deutlich wurden und sich verstärkten, kommt es auch unter Jugendlichen zunehmend zu Ungleichheiten. Diese fehlende Digitalisierung wurde im Verlauf der Pandemie teilweise aufgeholt, konnte aber nicht in allen Bereichen beibehalten werden. [2][3][4]

So ist der digital divide nicht zwangsläufig ein ausschließlich intergenerationales Phänomen. Auch innerhalb einzelner Generationen sind deutliche Unterschied bezüglich der digitalen Fitness von Personen festzustellen. Ein flächendeckendes digitales Kompetenzmodell, um diesem Trend entgegenzusteuern, hat das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung mit dem digi.komp ins Leben gerufen.

Emotionale Barrieren

Emotionale Barrieren können durch eigene Erlebnisse oder mediale Berichterstattungen entstehen. Solche Eigen- oder Fremderfahrungen können eine starke Zustimmung (zum eigenen Auto am Land) oder auch Ablehnungshaltungen bewirken (zum Postbus aufgrund der Erfahrungen als SchülerIn), die auch dann bestehen bleiben, wenn die Grundlage der Erfahrungen real gar nicht (mehr) gegeben oder stark verzerrt ist. So können Berichte von Flugunfällen paradoxerweise trotz der extremen Sicherheit des Flugverkehrs zu Flugangst führen, während den zahlreichen Straßenverkehrsunfällen kaum Beachtung geschenkt wird, es sei denn, man hat selbst einen Unfall erlebt.

Eine weitere Form emotionaler Barrieren wird durch soziale Dynamiken bewirkt. So werden andere Verkehrsmittel beispielsweise nicht genutzt, weil niemand aus dem eigenen sozialen Umfeld diese Alternative nutzt und man nicht riskieren möchte, als Außenseiter angesehen zu werden (bekannt unter dem Begriff social proof), oder weil man sich nicht zutraut, die Nutzung zu beherrschen und befürchtet, von anderen als inkompetent beurteilt zu werden. Emotionale Barrieren können aber auch ganz einfach dadurch bestehen, dass eine Alternative schlichtweg fremd ist und es keine Erfahrungen dazu gibt. In diesem Fall bleibt man lieber bei den gewohnten Mustern, die ein kalkulierbares Risiko darstellen, als eine Alternative zu testen, die sich als schlechter herausstellen könnte. Ein anschauliches Beispiel für dieses Verhaltensmuster sind morgendliche Staus im Pendlerverkehr, der bei den Betroffenen teilweise sogar eingeplant wird, anstatt auf den unbekannten und teilweise komplizierten (Fahrpläne, Tarife) öffentlichen Verkehr umzusteigen.

Einzelnachweise

  1. Rozynek, C., Mattioli, G. & Aberle, C. (2023). Was darf die ÖPNV-Nutzung im Kontext sozialer Teilhabe kosten? : Ideen für Indikatoren der ÖPNV-Erschwinglichkeit. Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Goethe-Universität Frankfurt. Online: https://doi.org/10.15480/882.7976.
  2. Feldhoff, T., Radisch, F., Maag Merki, K., Jude, N., Brauckmann-Sajkiewicz, S., Maaz, K., Arndt, M., Habeck, L., Suter, F., Wüst, O., Rettinger, T., Reschke, K. & Selcik, F. 2022. Erfahrungen von Schulleiter*innen in Deutschland, Österreich und in der Deutschschweiz während der COVID-19-Pandemie. Zentrale Ergebnisse der Längsschnittstudie «S-CLEVER. Schulentwicklung vor neuen Herausforderungen». Online: https://s-clever.org/wp-content/uploads/2022/01/S-CLEVER-Laenderuebergreifender-Bericht-2022.pdf.
  3. Suter, F., Maag Merki, K., Feldhoff, T., Arndt, M., Castelli, G., Gyger Gaspoz, D., Jude, N., Mehmeti, T., Melfi, G., Plata, A., Radisch, F., Selcik, F., Sposato, G., & Zaugg, A. (2023). Erfahrungen von Schulleiter*innen in der deutsch-, italienisch- und französischsprachigen Schweiz im Schuljahr 2021/2022 während der COVID-19-Pandemie. Zentrale Ergebnisse aus der Studie «S-CLEVER+. Schulentwicklung vor neuen Herausforderungen». Online: https://s-clever.org/wp-content/uploads/2023/04/S-CLEVER_2023_CH-Ergebnisbericht.pdf.
  4. Institut für Demoskopie Allensbach (2022). Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Lernverhalten. Ergebnisse einer Befragung von Schülern und Eltern von Kindern der Klassenstufen 5 bis 10 im Herbst 2022. Online: https://www.telekom-stiftung.de/sites/default/files/files/Lernen-nach-Corona-Bericht.pdf.